In dem Bestreben, dem Partikularismus (hier sind die der Deutschen Einheit entgegenstehenden Interessen der Fürstentümer und Königreiche gemeint) entgegenzustehen, sollten auch Bayern und Württemberg veranlasst werden, dem Reichspostgebiet beizutreten. Den Beitritt aller deutscher Staaten hoffte man umso leichter zu erreichen, wenn man in dem Bild der Briefmarke auf die Hoheitszeichen des Reiches verzichtete und in der allegorischen (auf Deutung ausgelegter sprachlicher oder künstlerischer Ausdruck) Darstellung der Germania die Krone mit Lorbeer umkränzte. Es entsprach aber auch ganz den Vorstellungen Kaiser Wilhelm II. (1859-1941), der ein Enthusiast der Verherrlichung des Germanentums war, auch in der Gestaltung des Postwertzeichens ein Symbol der Germania zu sehen. Nicht zuletzt spiegelte diese Begeisterung den Zeitgeist wider. Generalpostmeister Victor Graf von Podbielski (1844-1916), ein Skatbruder Wilhelm II., persönlich von diesem zum Nachfolger des ersten Generalpostmeisters Heinrich von Stephan (1831-1897) ernannt, war als ehemaliger General der Ziethenhusaren (nach dem preussischen Reitergeneral Hans Joachim von Zieten (1699-1786) benanntes Husarenregiment) selbst Vertreter dieser Denkart. So fiel es nicht schwer sich unter den für die neue Jahrhundertserie vorgelegten Entwürfen für das Brustbild der Germania zu entscheiden, die lorbeerumkränzte Kaiserkrone auf dem Haupte mit wallenden Locken, ein gepanzertes Gewand tragend, den Schwertknauf in der rechten Hand; wahrhaft eine deutsche Heldin.
Die am 6.3.1866 geborene Hamburger Gastwirtstochter Anna Führing (1866-1929) stand dem Schöpfer des Bildnisses, Paul Eduard Waldraff (1870-1917), Modell. Sie entdeckte früh ihre Neigung zur Kunst und beschloss schon mit 15 Jahren Schauspielerin zu werden. Der gerade als Direktor der Königlichen Hofoper Berlin in den Ruhestand getretene Ferdinand Karl Friedrich Felix von Strantz wurde ihr Mentor. 1889 heirateten sie und am 6. November wurde ihre Tochter Wally Anna Wilhelmine von Strantz geboren. In einem feierlichen Umzug in Berlin, anlässlich des hundertsten Geburtstages des ersten deutschen Kaisers und Königs von Preußen, Wilhelm I. (1797-1888), stellte Anna Führing die Germania dar. Nicht nur in Deutschland, auch in Amerika (sie trat in den Jahren 1889 und 1890 in New York und Philadelphia insgesamt 96 Mal auf) feierte Anna von Stranz-Führing wahre Triumphe als Schauspielerin und als Symbol für die Germania.
An dem Wettbewerb für die neue Briefmarkenserie beteiligten sich auch die Künstler der Reichsdruckerei, unter ihnen Paul Eduard
Waldraff. Sie war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die große und vorbildliche Kunstanstalt des deutschen Reiches. Dort wurden neben Briefmarken auch Banknoten und Staatsobligationen entworfen und hergestellt. Das von Waldraff “die Germania mit dem Blechbusen” genannte Motiv sollte für die kommenden nahezu zweiundzwanzig Jahre das Bild deutscher Briefmarken prägen. Der Kaiser selbst fällte die Entscheidung, welcher Entwurf ausgeführt werden sollte. Waldraff berichtete über diese Begebenheit:
»Die Wettbewerbsteilnehmer hatten ihre Werke in einem Saal der Reichsdruckerei an den Wänden aufgestellt und warteten voller Lampenfieber, angetan mit Frack oder Gehrock, der Dinge, die da kommen sollten. Die Entwürfe waren circa einen Meter hoch. Der erste Direktor hatte feierliche Begrüßungsworte für den hohen Gast bereit. Auf die Minute zur festgesetzten Zeit öffnet sich die Tür. Herein in schnellem Lauf seine Majestät, in seinem bekannten wehenden Umhang. Die tiefen Verbeugungen werden nicht beachtet. Von der Tür ausgehend schreitet der allerhöchste Kunstkenner in kaum vermindertem Tempo die Staffeleien ab, gefolgt von seinem Adjutanten. Wieder bei der Tür angekommen, macht der Kaiser kehrt, geht quer durch den Saal gerade auf die Germania zu und spricht, mit dem Finger kurz auf sie deutend, das entscheidende Wort “DIE”. Draußen war er.«
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